Mandanteninformation 05/2025
Mit Urteil vom 12.09.2024 in der Rs. C‑66/23 (Elliniki Ornithologiki Etaireia u.a.) hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) den Schutzumfang von ausgewiesenen EU-Vogelschutzgebieten in Griechenland gestärkt. Erste Reaktionen im deutschen juristischen Schrifttum leiten hieraus ab, dass auch in den Schutzgebieten in Deutschland zu wenige Vogelarten geschützt werden. Nachermittlungen und ‑ausweisungen seien erforderlich, mit der Folge von Verzögerungen der Zulassungsverfahren, etwa beim insoweit konfliktträchtigen Netzausbau. Nach Analyse des Urteils und der deutschen Rechtspraxis erscheint dies – zumindest in vielen Fällen – nicht zwingend.
I. Tenor, wesentliche Erwägungen und zentrale Aussagen der Vorabentscheidung des EuGH
Mit Urteil vom 12.09.2024 hat der EuGH entschieden, dass Art. 4 Abs. 1 u. 2 der Vogelschutzrichtlinie 2009/147/EG (VS-RL) in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 bis 4 der Richtlinie 92/43/EWG zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie, FFH-RL) von den Mitgliedstaaten verlangt, für jedes EU-Vogelschutzgebiet Erhaltungsziele und ‑maßnahmen hinsichtlich aller (vorkommenden) in Anhang I der VS-RL aufgeführten Vogelarten sowie der dort nicht aufgeführten, regelmäßig auftretenden Zugvogelarten festzulegen. Dabei obliegt es den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Erhaltungsziele (und Erhaltungsmaßnahmen) Prioritäten festzulegen. Unzulässig ist es nach den Entscheidungsgründen, die von der Richtlinie vorgesehenen Schutz‑, Erhaltungs- und Wiederherstellungsmaßnahmen lediglich auf die „für die Ausweisung maßgeblich[en] Arten“ zu beschränken (Tenor sowie Rn. 49 u. 59 d. Urteils).
Hintergrund dieses Vorabentscheidungsurteils ist ein Rechtsstreit in Griechenland u.a. zwischen Umweltverbänden und der beklagten griechischen Regierung über die Umsetzung der VS-RL in Griechenland. Das griechische Recht sieht vor, dass sich die „Umweltprüfung“ eines Projekts hinsichtlich seiner Auswirkungen auf ausgewiesene EU-Vogelschutzgebiete (Besondere Schutzgebiete, BSG) auf diejenigen Vogelarten nach der VS-RL bezieht, die „für die Ausweisung maßgeblich“ waren. Darunter sind nach den Ausführungen des EuGH diejenigen Vogelarten nach der VS-RL zu verstehen, die entsprechend ornitologischer Kriterien die Ausweisung eines BSG veranlasst haben („Indikator“-Arten). Der gleiche Bezugspunkt („Indikator“-Arten) gilt für bestimmte „horizontal“ festgelegte Erhaltungsmaßnahmen in den BSG (Rn. 8 ff. d. Urteils).
Die Kläger sind der Ansicht, dass die Beschränkung auf die „für die Ausweisung maßgeblichen Arten“ gegen Art. 4 Abs. 1 u. 2 VS-RL verstoße. Diese Vorgaben machten den Gebietsschutz allein davon abhängig, ob es sich um (im Gebiet vorkommende) Arten nach der VS-RL handele, nicht aber lediglich von den „Indikator“-Arten für die Gebietsausweisung. Die Frage, ob diese Rechtsauffassung zutrifft, legte das oberste griechische Verwaltungsgericht (Staatsrat) dem EuGH zur Vorabentscheidung vor (Rn. 13 ff. d. Urteils).
Mit seinem Urteil gibt der EuGH den Klägern recht. Zur Begründung verweist er darauf, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 1 u. 2 VS-RL zwar zum einen diejenigen Gebiete zu BSG erklären müssten, die für die Erhaltung der geschützten Arten zahlen- und flächenmäßig am geeignetsten sind. Zum anderen folge aus diesen Vorgaben aber auch die Verpflichtung, „besondere Schutzmaßnahmen“ hinsichtlich des Lebensraums festzulegen. Bei diesen Schutzmaßnahmen handele es sich strukturell um Erhaltungsmaßnahmen im Sinne von Art. 6 Abs. 1 FFH-RL. Insoweit unterschieden – so der EuGH – die Vorgaben auch der VS-RL für diese Erhaltungsmaßnahmen nicht danach, ob das betreffende BSG für bestimmte von Art. 4 Abs. 1 u. 2 VS-RL geschützte Vogelarten ausgewiesen wurde („Indikator“-Arten) oder aber die geschützten Arten in dem Gebiet als andere schutzwürdige Arten iSv Art. 6 Abs. 1 FFH-RL „vorkommen“, ohne dass diese Arten für die Ausweisung maßgebend waren. Entsprechend dem Wortlaut von Art. 6 Abs. 1 FFH-RL sei das „Vorkommen“ der von der VS-RL geschützten Arten im Gebiet maßgeblich (Rn. 24 ff. d. Urteils).
Dieses Ergebnis werde auch dadurch bestätigt, dass die Schutzvorgaben der Art. 6 Abs. 2 bis 4 FFH-RL gemäß Art. 7 FFH-RL auf BSG nach der VS-RL anzuwenden seien. Denn zu beachten sei, dass sich diese Vorgaben – insbesondere auch die vorhabenbezogene FFH-Verträglichkeitsprüfung nach Art. 6 Abs. 3 FFH-RL – auf die für ein FFH-Gebiet festgelegten sog. Erhaltungsziele bezögen. Diese Vorgaben für den FFH-Gebietsschutz setzten daher die Festlegung von Erhaltungszielen voraus. Dabei komme es allein darauf an, ob nach der FFH-RL geschützte Arten in dem Gebiet in erheblichem bzw. signifikantem Maße vorkommen, nicht aber darauf, ob es sich um Arten handelt, auf denen die Auswahl der Gebiete beruhte. Entsprechendes gelte daher für die Festlegung von Erhaltungszielen für die von der VS-RL geschützten Vogelarten in BSG (Rn. 35 ff. d. Urteils).
Schließlich verweist der EuGH darauf, dass die Mitgliedstaaten in einem ausgewiesenen BSG somit zwar alle von Art. 4 Abs. 1 u. 2 VS-RL erfassten (und vorkommenden) Vogelarten und deren Lebensraum berücksichtigen müssten, jedoch hinsichtlich des Schutzes dieser Arten Prioritäten festzulegen hätten. Hierzu sei es erforderlich, das Vorkommen von nach der VS-RL geschützten Arten in dem BSG, den Beitrag der betreffenden Bestände zu den Zielen der VS-RL sowie Gefahren und Bedrohungen, denen diese Bestände ausgesetzt sind, festzustellen (Rn. 52 f. d. Urteils).
Analysiert man die zentralen Aussagen, ist klar, dass eine pauschale Begrenzung der Erhaltungsziele und ‑maßnahmen bei BSG – und zugleich der FFH-Verträglichkeitsprüfung (s. dazu Rn. 55 ff. d. Urteils) – auf die „für die Ausweisung maßgeblichen Arten“ unzulässig ist. Diese „Indikator“-Arten ergeben sich aus den Angaben zur ursprünglichen Gebietsmeldung bzw. dem ursprünglichen Standarddatenbogen. Ebenfalls ist klar, dass im Rahmen der Festlegung der Schutzzwecke und Erhaltungsziele (d.h. z.B. die Wiederherstellung von Uferböschungen für Brutplätze) eines BSG zwar alle im Gebiet vorkommenden VS-RL-Arten berücksichtigt werden müssen. Hierzu müssen die staatlichen Stellen das Vorkommen schützenswerter Vogelarten in einem BSG feststellen. Indes bedeutet dies nicht, dass am Ende jede erkannte Art auch in den Gebietsschutz einbezogen werden muss (z.B. nicht bei fehlender Signifikanz des Vorkommens oder bei fehlender Priorität, s.o.). Vielmehr verdeutlicht das Urteil, dass die Mitgliedstaaten bei der Festlegung der Schutzzwecke und Erhaltungsziele über fachliche Spielräume verfügen, wobei das Vorkommen der geschützten Vogelarten prinzipiell laufend im Blick behalten werden muss.
II. Auswirkungen der Entscheidung auf die deutsche Vorhabenzulassungspraxis?
Einige Erstdeutungen des Urteils weisen darauf hin, dass auch die deutsche Gebietsausweisungs- und Vorhabenzulassungspraxis nicht mit den Vorgaben des EuGH in Einklang stehe, insbesondere mit den eingangs skizzierten Folgen für die Vorhabenzulassung. Folgende Gesichtspunkte sprechen indes für eine differenzierte Bewertung der Auswirkungen:
1. Bei Verträglichkeitsprüfungen erfolgt oftmals die Einbeziehung von geschützten Vogelarten über die „Indikator“-Arten hinaus
Festzustellen ist zunächst, dass sich Erhaltungsziele und Erhaltungsmaßnahmen bei BSG in Deutschland oftmals zumindest nicht allein auf die ursprünglichen „Indikator“-Arten beziehen, sondern vielmehr auf weitere nach der VS-RL geschützte und in den Gebieten vorkommende Arten.
Hintergrund ist, dass die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet sind, die für die Gebiete zu erstellenden Managementpläne, Erhaltungsziele und Standarddatenbögen anhand neuer verfügbarer Daten zum Arteninventar der Gebiete regelmäßig fortzuschreiben (vgl. etwa die Erläuterungen im Durchführungsbeschluss (DB) 2011/484/EU der Kommission zum Standarddatenbogen). Im deutschen Recht finden sich entsprechende Vorschriften in unterschiedlicher Form im Landesrecht. Konzeptionell ist dabei an einen wechselbezüglichen Erkenntnisgewinn gedacht. Beispielsweise werden in der deutschen Praxis im Rahmen der Umsetzung und Überprüfung der Erhaltungsmaßnahmen der an den Angaben des Standarddatenbogens und der festgelegten Erhaltungsziele orientierten Managementpläne neue Erkenntnisse über im BSG vorkommende Arten gewonnen, die bei „Signifikanz“ (s.o.) neu in den Standarddatenbogen und die förmliche Erhaltungszielfestlegung aufgenommen werden. Fixe Zeiträume, Kartierungs- und Aktualisierungsfristen sind hier und im deutschen Umsetzungsrecht indes nicht vorgesehen. Dies erklärt zum einen die uneinheitlichen Zeitpunkte und Aktualisierungsintervalle des Arteninventars. Zum anderen folgt daraus, dass die genannten Unterlagen und Schutzgebietsverordnungen meist nicht gleichzeitig dem neuesten Stand entsprechen können.
Dieser Umstand wird in FFH-Verträglichkeitsprüfungen in Bezug auf BSG indes beachtet und die vorhabenbezogene Prüfung und Bestandserfassung in der Praxis an den neusten verfügbaren Erkenntnissen zum Gebietsinventar ausgerichtet. Das bedeutet, dass die Betrachtung regelmäßig über die (ursprünglichen) „Indikator“-Arten hinausgeht.
2. „Verfügbare“ Gebietsinformationen maßgeblich
Allerdings führt der Leitsatz des EuGH sodann zu der Frage, ob die in Deutschland bisweilen recht uneinheitlich erscheinende Aktualisierung von nach der VS-RL geschützten Artenvorkommen und entsprechenden Erhaltungszielen den unionsrechtlichen Anforderungen genügt. Hierzu verhält sich die Entscheidung des EuGH nicht.
Indes dürften hier erhebliche Spielräume bestehen. Die Anforderungen an die fortlaufende Überwachung und die Managementplanung in BSG im Unionsrecht fallen – anders etwa als im Rahmen der fristengebundenen Maßnahmen- und Bewirtschaftungsplanung für Gewässer nach der Wasserrahmenrichtlinie – äußerst vage aus. Weder die VS-RL noch die FFH-RL noch weitere Sekundär- oder Tertiärrechtsakte enthalten hier konkrete Vorgaben. Vielmehr räumen die Erläuterungen zur „empfohlenen“ Aktualisierung des Standarddatenbogens im DB 2011/484/EU ein, dass eine gesonderte Überwachung jedes einzelnen Gebiets auch nach Art. 11 der FFH-Richtlinie nicht vorgeschrieben ist. Vergleichbares gilt für die Art und Weise der Erhebung der Daten zu den Artvorkommen in den BSG. Der EuGH hat bereits mehrfach betont, dass es insoweit auf die „besten verfügbaren“ Daten ankommt. Auf dieser Linie weist der o.g. DB unter 3.2 darauf hin, dass die Daten sowohl auf konkreten Kartierungen, auf teilweise vorhandenen empirischen Daten in Verbindung mit „Extrapolierungen“ wie auch lediglich auf „groben Schätzungen“ beruhen können (und dürfen). Keinesfalls besteht daher die Verpflichtung zu einer systematischen und umfassenden Kartierung sämtlicher Vogelschutzgebiete. Eine derartige Interpretation des EuGH-Urteils würde das einschlägige Unionsrecht vielmehr überspannen.
3. Ergänzende Ermittlung des zu schützenden Arteninventars im Einzelfall
Lediglich in solchen Fällen, in denen im Rahmen einer FFH-Verträglichkeitsprüfung deutliche Anhaltspunkte dafür bestehen – z.B. aufgrund des erheblichen Alters der Gebietsinformationen –, dass die Angaben möglicherweise überholt sind, stellt sich die Frage, ob und wie das Verfahren ohne Verzögerung, d.h. ohne vorherige förmliche Anpassung der Schutzgebietsverordnungen bzw. Erhaltungszielfestlegung fortgeführt werden kann.
Insoweit erscheint die Klarstellung des EuGH beachtlich, wonach der rechtliche Schutzstatus, mit dem die BSG im nationalen Recht versehen sein müssen, nicht verlangt, dass die Erhaltungsziele für jede Art gesondert angegeben werden müssen bzw. in dem Rechtsakt enthalten sein müssen, der auch die geschützten Arten und Lebensräume eines bestimmten BSG betrifft (Rn. 57 d. Urteils). Dies spricht dafür, dass für die Durchführung einer unionsrechtskonformen FFH-Verträglichkeitsprüfung zumindest „provisorisch“ eine rein materielle Berücksichtigung des ergänzend in Betracht kommenden Arteninventars und entsprechender Erhaltungsziele genügt. Das Verfahren könnte demzufolge ohne Abwarten auf die förmliche Anpassung der Ebene der Gebietsausweisung fortgeführt werden. Insbesondere dürften für die in diesem Rahmen ggf. ergänzend erforderliche Bestandserfassung zeitsparend wiederum keine strengeren Anforderungen gelten als nach den Vorschriften für die Aktualisierung des Standarddatenbogens nach dem DB 2011/484/EU vorgesehen sind (s. unter II.2.). Hinsichtlich der ggf. erforderlichen „behelfsmäßigen“ Zugrundelegung von einschlägigen Erhaltungszielen und der Prioritäten dürfte die Abstimmung mit der für die FFH-Managementplanung zuständigen Behörde erforderlich sein.
III. Fazit
Das Urteil des EuGH stärkt den europäischen Vogelschutz und steht auf den ersten Blick in Widerspruch zu dem Anliegen der EU-Notfallverordnung, namentlich für Netzausbauprojekte unter Verzicht auf detaillierte Artenschutzprüfungen eine Zulassungsbeschleunigung zu erreichen (vgl. hierzulande § 43m EnWG). Mit Blick auf die Situation in Deutschland erscheint indes eine differenzierte Betrachtung der Auswirkungen sachgerecht. Für das Verdikt des EuGH zum griechischen Recht besteht in Deutschland keine vergleichbare Angriffsfläche. Vielmehr belässt das Urteil Spielräume für die unverzögerte Vorhabenzulassung.
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